Offener Brief “Gestalten statt spalten!”

 

Offener Brief der Fachberatungsdienste für Geflüchtete im Land Brandenburg

Brandenburg, 17.01.2024

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Woidke, sehr geehrte Politiker: innen der demokratischen Parteien des Landes Brandenburg,

wir, die Fachberatungsdienste Migrationssozialarbeit im Land Brandenburg, möchten uns dem Aufruf für eine sachliche Migrationsdebatte in Brandenburg anschließen und auch von unserer Seite der populistisch geführten Debatte um die Überlastung der Kommunen durch Geflüchtete entgegentreten. Die tatsächlichen Probleme liegen woanders:

Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Kita- und Schulplätzen, fehlender öffentlicher Nahverkehr und adäquate Gesundheitsversorgung erschweren den Alltag vieler Einwohner: innen im Land. Geflüchtete sind nicht Ursache dieses Mangels, sondern leiden genau wie Einheimische unter diesen Bedingungen, bzw. sind teilweise aufgrund gesetzlicher Restriktionen noch stärker davon betroffen. Die Belastung der Kommunen resultiert aus jahrelang ausgebliebenen Investitionen in die örtliche soziale Infrastruktur.

Zudem nehmen wir als Fachberatungsdienste wahr, dass die kommunalen Brandenburger   Verwaltungen am Limit sind und ihren Auftrag als Serviceeinrichtungen für die Bürger: innen kaum noch erfüllen können. Die Ausländerbehörden sind in den meisten Landkreisen überlastet, was lange Wartezeiten, nicht bearbeitete Anträge, mangelnde telefonische Erreichbarkeit oder ausbleibende Reaktionen auf E-Mails zur Folge hat und damit Planungen und Bemühungen unserer Klient:innen blockiert und erschwert. In der im Oktober 2023 publizierten bundesweiten Studie der Bertelsmann-Stiftung wird angeführt, dass „eine der häufig genannten Forderungen aus den befragten Ausländerbehörden Präzisierungen des Gesetzgebers bzw. eine stärkere Verantwortungsübernahme auch der Landesregierungen bei mehrdeutiger Rechtslage sind“1. Als Verantwortliche in der Landespolitik könnten Sie zu einer Entlastung kommunaler Überforderung beitragen, indem Sie einen Beitrag zum Abbau der Überregulierung und Klarstellung bei mehrdeutiger Rechtslage (z.B. in Form von Erlassen) herstellen.

Die Debatte um die Wiedereinführung von Sachleistungen in Form eines aufwendigen Bezahlkartensystems ist rückwärtsgerichtet und irrational – insbesondere in Brandenburg; denn hier kam die Landesregierung – infolge erheblicher zivilgesellschaftlicher Proteste – 2011 zu der Auffassung, dass Sachleistungen die eigenständige Lebensgestaltung der Betroffenen einschränke, und setzte sich bundesweit für die Abschaffung von Sachleistungen für Geflüchtete ein. 2012 konstatierte das BVerfG in einer Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz2, dass die in Art.1 Abs.1 GG garantierte Menschenwürde migrationspolitischnicht zu relativieren und eine Schlechterstellung von Geflüchteten nicht zu rechtfertigen sei. Damit ist eine  Grundrechtseinschränkung aus Gründen der Migrationssteuerung ausgeschlossen. Im Übrigen sind Auswirkungen der Gestaltung von Sozialleistungen laut aktueller Studienlage kein entscheidender Faktor für Migration, viel mehr sind Faktoren wie Rechtstaatlichkeit, demokratische Verfasstheit des Ziellandes oder große Communitys aus der Herkunftsregion ausschlaggebend.3

Statt Geflüchtete zu stigmatisieren, sollten wir uns darauf konzentrieren, wie Teilhabe ermöglicht, effektiver gestaltet und auf diesem Weg gleichzeitig eine Entlastung der Kommunen erreicht werden kann. Je besser Menschen in die Lage versetzt werden, ein selbstständiges Leben zu führen, umso weniger bedarf es der behördlichen Steuerung. Entscheidend ist dabei der Zugang zu Sprachkursen für jeden Aufenthaltsstatus sowie die Aufhebung von kontraproduktiven Restriktionen. Dazu gehören das Arbeitsverbot, Wohnungsauflagen für Asylsuchende, die Verpflichtung von anerkannten Geflüchteten im Bundesland zu verbleiben, die Verpflichtung in Gemeinschaftsunterkünften zu leben sowie die restriktive Verteilung der Geflüchteten, welche den Zuzug zu Familie, Freunden, zum Arbeitsplatz verhindern. Die Einbindung von Zivilgesellschaft und NGOs bei den verschiedenen Aufgaben der Integration ist ebenfalls unerlässlich und dient der Entlastung der Kommunen.

Spätestens die Wahlen in Bayern und Hessen müssen Ihnen gezeigt haben, dass ein populistischer Diskurs auf dem Rücken von Geflüchteten nur den demokratiefeindlichen Kräften in die Hände spielt.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Vertreter: innen der demokratischen Parteien, lassen Sie uns die eigentlichen Probleme angehen und nicht Diskussionen um Scheinlösungen führen, die der demokratischen Entwicklung schaden!

1 Bertelsmann-Studie „Ausländerbehörden zwischen Anspruch und Alltag“
2 Beschluss vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10
3 Mediendienst Integration „Demokratie ist ein Pull-Faktor“

 

Gezeichnet:

  • ESTAruppin e.V., Fachberatungsdienst für den Landkreis Ostprignitz-Ruppin
  • Diakonisches Werk Niederlausitz gGmbH, Fachberatungsdienst für den Landkreis Spree-Neiße
  • Asylverfahrensberatung – Evangelischer Kirchenkreis Barnim, Fachberatungsdienst für den Landkreis Barnim
  • Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, Fachberatungsdienst für den Landkreis Barnim
  • Johanniter-Unfall-Hilfe e.V., Fachberatungsdienst für den Landkreis Uckermark
  • Internationaler Bund Berlin-Brandenburg gGmbH, Fachberatungsdienst für den Landkreis
    Potsdam-Mittelmark
  • Internationaler Bund Berlin-Brandenburg gGmbH, Fachberatungsdienst für den Landkreis
    Havelland
  • Internationaler Bund Berlin-Brandenburg gGmbH, Fachberatungsdienst für die Stadt Brandenburg
  • Diakonisches Werk Elbe-Elster e.V., Fachberatungsdienst für den Landkreis Dahme-Spreewald
  • Diakonisches Werk Elbe-Elster e.V., Fachberatungsdienst für den Landkreis Oberspreewald-Lausitz
  • KommMit e.V., Fachberatungsdienst (kommissarisch) für den Landkreis Elbe-Elster
  • Strausberger Bildungs- und Sozialwerk e.V., Fachberatungsdienst für den Landkreis Teltow-
    Fläming
  • Caritasverband der Diözese Görlitz e. V., Fachberatungsdient für die Stadt Cottbus
  • Landkreis Prignitz, Fachberatungsdienst für den Landkreis Prignitz
  • Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V., Fachberatungsdienst für den Landkreis Märkisch-
    Oderland
  • Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V, Fachberatungsdienst für den Landkreis Oder-Spree
  • Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V, Fachberatungsdienst für die Stadt Frankfurt Oder